Kleiner bruder von ibrahima balde & Amets arzallus

Text von Lisa Ndokwu

„Die Ferne ist für einen Brief kein Problem.“ sagt Ibrahima. Seine erste große Reise in die Stadt macht er mit fünf Jahren. Als er dreizehn ist, stirbt sein Vater. Als ältester Sohn muss er seine Mutter und seine Geschwister unterstützen. Er verreist wieder. „Liberia“ steht auf dem Bus. Dort, so hat er gehört, soll es Arbeit geben. Ein wenig nimmt er diesen Bus auch, weil dieses Wort ihm gefällt. Und obwohl er die Sprachen, die in Monrovia gesprochen werden, anfangs nicht versteht, schafft er es, Arbeit zu finden. Ein LKW-Fahrer nimmt ihn als Lehrling auf. Mit vierzehn hat er seinen ersten Arbeitsvertrag.

Pular, Malinke, Susu und Französisch sind die Sprachen, die der Erzähler spricht. Geboren wurde er in Guinea. Seine Geschichte erzählt er in Spanien. Im Baskenland schreibt sie der Sänger Amets Arzallus auf.

Eigentlich wollte Ibrahima nie nach Europa. Er war auf der Suche nach seinem kleinen Bruder Alhassane. Ihm ist diese Geschichte gewidmet und für ihn wird sie erzählt.

„Eins, zwei, drei…“ sagt Ibrahima oft. So sammelt er Argumente für und wider eine Entscheidung. Die Aufzählung folgt einer Logik und gleichzeitig vermeidet er, seiner Mutter die Wahrheit über Alhassane zu erzählen. „Eins, zwei, drei…“ sagt Ibrahima, während er auf einen Bus in Guinea wartet, in Mali in Gefangenschaft gerät, auf einer Baustelle in Algier arbeitet, in Libyen gefoltert wird, in einem Wald in Marokko mit Bauchschmerzen ausharrt.

„Wenn du einen Schmerz in deinem Körper hast, verbindet er sich mit anderen Verletzungen und lässt dich vergessen.“ Tröstende Sätze wie diese finden sich viele in diesem Buch. Solidarität, Mut, Moral und Gerechtigkeit, Schmerz und Trauer sind die großen Themen, die den Rahmen für diese Lebensgeschichte bilden.

Der Weg des Protagonisten ist mit Sprachkreationen und Wortkombinationen gesäumt. Diese Poesie des Alltags klingt lange nach und so entsteht mehr als ein authentischer Bericht über Menschen auf der Flucht. In jedem Land, in dem er sich aufhält, lernt er fremde Worte und neue Menschen kennen.

Ein Wort verrät ihm die Wahrheit über seinen kleinen Bruder. „Naufrage“ sagt der Mann, der seinen Bruder kannte. Es bedeutet, dass ein Schlauchboot einen Unfall hat. Mit diesem Wort verabschiedet sich Ibrahimas Verständnis für das Leben und seine Wirrnisse. Erst viele Seiten später kehrt „sein Geist“ zurück.

Dieser schmale Band ist mehr als ein Buch über Flucht und Migration. Es ist die Geschichte von Ibrahima, der die Wüste, das Meer und die Macht der Worte kennengelernt hat, weil er auf der Suche nach seinem kleinen Bruder war. Wenn er eines Tages nach Hause zurückkehren wird, wird er diese Geschichte seiner Mutter und seinen Schwestern erzählen. Wahrscheinlich wird er „eins, zwei, drei…“ sagen.

Ibrahima Balde, Amets Arzallus. Kleiner Bruder. Die Geschichte meiner Suche.

Aus dem Baskischen von Raul Zelik.

Suhrkamp Verlag Berlin 2021