
Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o ist gestern 28. Mai 2025 im Alter von 87 Jahren im US-amerikanischen Bundesstaat Georgia gestorben. Thiong’o galt als einer der bedeutendsten Autoren Afrikas. 1977 beschloss er nicht mehr auf Englisch sondern nur in seiner Muttersprache Kikuyu zu schreiben. Ein Akt des Dekolonisierung des Denkens, wie er immer pflegte zu sagen. Lisa Ndokwu publizierte diese Rezension auf unserer früheren Homepage Afrikanet.info im Jahre 2011.
Wenn seine „Allmächtige Vortrefflichkeit“, der Herrscher von Aburĩria, sein Volk zum öffentlichen Geburtstagfest einlädt, hoffen alle auf ein Stück des gigantischen Kuchens. Verschenkt wird ein Denkmal, ein Turm in den Himmel, damit die allumfassende Macht des Herrschers in direkter Verbindung mit Gott stehen kann. Die symbolische Kraft dieses Turmprojekts „Marching to Heaven“ wird nicht von allen
Bevölkerungsgruppen gewürdigt. Unmut greift um sich und in allen Landesteilen werden subversive Akte gesetzt, in denen Verkleidungen aller Art, unendlich lange Menschenschlangen sowie winzige Plastikschlangen eine Rolle spielen.
Ngũgĩ wa Thiong´o erzählt die unglaublichen und absurden Ereignisse in einem fiktiven Staat namens Aburĩria in einer Sprache, die an die orale Erzähltradition Afrikas erinnert. Ebenso monumental wie der Turm in den Himmel erscheint der 900seitige Roman auf den ersten Blick. Dieses Buch werden Sie nicht aus den Händen legen können, es ist kurzweilig, amüsant, melancholisch und im Grunde der Frage nach der Moral verpflichtet. Eine philosophische Abhandlung in Form eines Romans, der in all seinen Facetten und Handlungssträngen niemals verwirrend wirkt.
Ein Despot, der von einer rätselhaften Krankheit befallen wird, zahlreiche Minister, die ihr äußeres Erscheinungsbild durch die kosmetischen Möglichkeiten einer pervertierten chirurgischen Industrie ihrem Amt anpassen, wie etwa die operativ vergrößerten Ohren des Innenministers oder die stechenden Augen des Außenministers und ein Volk, das mehr oder weniger zu überleben versucht. Und so wird der geplante Turmbau zur Hoffnung von vielen, die auf der Suche nach Arbeit ihre Chance ergreifen wollen.
Kamĩtĩ, ein arbeitsloser Akademiker, begegnet auf seiner Arbeitssuche Nyawĩra, einer politischen Aktivistin. Verfolgt von der repressiven Polizei machen die beiden sich den weit verbreiteten Glauben an Dämonen und Zauberer zunutze und Kamĩtĩ wird zum „Herrn der Krähen“. Sein Ansehen und seine „Zauberkräfte“ werden legendär und letztendlich soll er die
rätselhafte Krankheit des Herrschers heilen.
Die zahlreichen Protagonisten spiegeln die Lebensrealitäten aller erdenklichen sozialenMilieus. Mit großer Fabulierkunst werden von den Bettlern bis zu den Repräsentanten der höchsten Staatsämter Menschen in all ihren Widersprüchen dargestellt. Der Turm „Marching to Heaven“ muss finanziert werden und seine „Allmächtige Vortrefflichkeit“ reist für dieses Unterfangen in die USA, um die „World Bank“ von der Wichtigkeit dieses Bauvorhabens zu überzeugen. Mit der Beschreibung der Wege des Finanzkapitals zeichnet der Autor die hoch komplexe globalisierte Welt als Komödie der Eitelkeiten. Die Passagen über die Verhandlungen der Finanzierung zählen zu den humorvollsten des Buches, gleichzeitig gelingt es Ngũgĩ wa Thiong´o die zynischen und grausamen Aspekte der Finanzwelt darzustellen.
Durch die virtuose Übersetzung von Thomas Brückner, der einer der besten Übersetzer zeitgenössischer afrikanischer Literatur ist, erschließt sich die Vielfältigkeit und Genialität dieses großen Romans von Ngũgĩ wa Thiong´o dem deutschsprachigen Lesepublikum. Symbole aus dem Fundus der Weltreligionen, archaische Rituale, Auszüge aus der Philosophiegeschichte, humorvolle Anspielungen auf die postkoloniale Geschichte von afrikanischen Staaten, Elemente des „Unsichtbaren Theaters“ und eine der schönsten Liebesgeschichten sind die Ingredienzien dieses Romans. Aufmerksam Lesende werden die Satire mit dem Regime von Daniel Arap Moi in Kenia, dem Land in dem der Autor geboren wurde, vergleichen können. Nicht zuletzt knüpft diese große Erzählung an die Erzähltradition
der Gikũyũ an.
„Art is a product of the entire social tree and also holds the seeds of our future.” Ngũgĩ wa Thiong`o
Einer der bedeutendsten Autoren Afrikas schreibt seit den 1970iger Jahren in seiner ersten Sprache, Gikũyũ, Weltliteratur. Wie gefährlich diese Entscheidung ist, zeigte sich bei der Vorstellung des Buches in Kenia im Jahr 2004. Nach mehr als 20jährigem Exil in den USA reiste Ngũgĩ wa Thiong´o mit seiner Frau nach Kenia. Während ihrer Lesereise wurden die
beiden überfallen und grausam misshandelt. Eine politische Motivation des Überfalls war selbstverständlich nicht nachzuweisen. Trotz der Repressalien setzten der Autor und seine Frau ihre Lesereise fort, weil in einem Land, in dem Bücher für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich sind, Worte kostbar sind und weiter getragen werden.

Ngũgĩ wa Thiong`o, Herr der Krähen.
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
Fischer Taschenbuch, ISBN: 978-3-596-19172-7