„Tremor“ , ein Roman von Teju Cole
Von Lisa Ndokwu
Privat wie Photo
Sein Protagonist Tunde, Professor für Photografie in Harvard, findet hin und wieder Motive auf der sprichwörtlichen Straße. Wir begegnen ihm, als er seinen Blick durch die Linse eines Photoapparats richtet, um eine Hecke zu fotografieren. Schnell wird ihm klar, dass er verschwinden muss. Eine bedrohlich klingende Stimme macht ihn darauf aufmerksam, dass dies Privatgrund sei. Er läuft nach Hause, in sein Refugium, in dem er mit seiner Frau Sadako lebt. Teju Cole gelingt es, die Liebesgeschichte dieser beiden Charaktere als Tanz zu beschreiben. Musikalisch bewegt sich das Paar zwischen Bach, John Coltrane und den Klängen des Balafons.
Perspektiven
Diese immerwährende Eroberung von Liebenden fließt in den großen Text von Unterwerfung von Territorien, Körpern und vor allem Kunstgegenständen ein. Mit großer stilistischer Vielfalt ergründet der Autor die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Geschichte der Aneignung von Kunstgegenständen. Es gibt nicht viele Romane, in denen Vielstimmigkeit und schnell wechselnde Erzählperspektiven ein stringentes Ganzes ergeben. Verhandelt werden historische Ereignisse, zeitgenössische Begebenheiten, intime Bekenntnisse. Die Museen der Welt sind voll von Kunstwerken, die über die Jahrhunderte den Anteil an Gewalt in der Geschichte der Menschheit aufzeigen.
Reproduktion und Restitution
Als Professor einer renommierten Universität wird Tunde zu Vorträgen eingeladen. Ein Vortrag zu den Bildern von J.M.W. Turners „Sklavenschiff“ und Herri met de Bles „Landschaft mit brennender Stadt“ bildet den Mittelteil des Romans. Wann die Bilder wie und warum die Besitzer gewechselt haben, sind die tragenden Säulen dieses Vortrags. Wem gehört die Kunst, die wir betrachten, in den Museen der Welt? Diese entscheidende Frage führt unweigerlich zur Restitutionsfrage der zahlreichen geraubten, afrikanischen Kunstobjekte, die erst in diesem Jahrhundert zögerlich verhandelt wird. Symbolisch für die geraubten Artefakte aus afrikanischen Königreichen begleitet die Lesenden eine kleine Messing-Skulptur des Königreichs Ségou durch den Roman. Dieses Kunstwerk durfte bei den Feierlichkeiten zum Erntefest der Bambara nicht fehlen.
Unruhe im Orchester
Acht Kapitel folgen wir dem Protagonisten, seinen Reisen, seinen Gedanken, seinen Beziehungen. Vor und nach seinem Vortrag bewegen wir uns durch ein Photofestival, die Musikszene Bamakos, nehmen Anteil an der Geschichte der indigenen Bevölkerung, hören die vielen Stimmen, die Lagos zu einer Megacity machen.Tunde ist ein Reisender, ein Künstler, ein Lehrender, der sich in einer Welt bewegt, in der Diversität und Toleranz vorausgesetzt werden. Die große Klammer im künstlerischen Leben bildet die Musik. Hier sind es die leisen, fehlerhaften Töne, die im Orchester Unruhe verbreiten. Diese Töne werden meist vom Publikum nicht bemerkt, denn sie sind subtil. Dieses Buch zeigt auf, wie Menschen, die diese Töne hören, damit umgehen.
Vom Photo zum Manifest
Am Ende begleiten wir Tunde zur eingangs erwähnten Hecke. Es ist Nacht. Tunde macht sein Photo von der Hecke. Zu Hause befällt ihn ein Schwindel.In diesem Roman werden vielstimmige Chöre dirigiert. Die Reflexion ist ein Grundmotiv und begleitet die Suche nach Worten der Gerechtigkeit und Wahrheit. Es ist ein langes Lied voll Trost und Weisheit. Dieses Buch ist ein künstlerisches Manifest vom Widerstand gegen jegliche Form von Rassismus und Unterdrückung.
Tremor. Roman von Teju Cole. Aus dem Englischen von Anna Jäger. claassen 2024, Ullstein Buchverlage, ISBN: 978-3-546-20065-6